Kosmische Strahlung und die Datierung von Gletscherrückzügen

Um den heutigen Klimawandel besser verstehen zu können, lohnt sich ein Blick zurück zum Ende der letzten Eiszeit. Die Gletscher, die die Alpen und weite Teile Nordeuropas bedeckten, zogen sich vor etwa 19.000 Jahren langsam zurück. Wie aber hat man das herausgefunden? Um diese Frage zu beantworten, hat die Wissenschaft wieder in den Kosmos geschaut, genauer gesagt auf seine Strahlung aus Protonen, also positiv geladenen kleinsten Teilchen, die jeden Tag auf die Erde treffen, ach was, jede Sekunde (Abbildung 1)!

Abbildung 1: Beim ersten Kontakt eines kosmischen Teilchens mit der Erdatmosphäre entsteht eine Vielzahl neuer Teilchen. Sekündlich erreichen uns kosmische Teilchen aus den Tiefen des großen, weiten Universums. Quelle: youtube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=UYEJ6-XrYRw

Es ist wirklich nicht so schlimm, wie es sich anhört. Aber jeder Mensch wird in 10 Sekunden von etwa 100 kosmischen Teilchen getroffen, egal wo wir uns aufhalten, ob draußen oder – wenn nicht gerade in einem Bunker – drinnen! Wie man die kosmischen Teilchen im Wohnzimmer nachweisen kann, zeigt dieses informative Video:

Keine Angst! Die allermeisten Teilchen haben geringe Energien von 103 bis 109 Volt (V) und sind für uns Menschen völlig ungefährlich. Der Teilchenbeschleuniger in Cern beschleunigt seine Teilchen auf 1012 Volt. Höher energetische kosmische Teilchen sind absolut die Ausnahme. Die energiereichsten von ihnen erreichen jedoch bis zu 1020 V und das ist wirklich eine ganze Menge. Gott sei Dank trifft ein solch hochenergetisches Teilchen auf der Erde pro Quadratkilometer und Jahrhundert nur einmal auf (Völkle, 2010). Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen selbst treffen wird oder einen seiner Vorfahren traf, geht also absolut gegen Null. Ok, es gibt wirklich Pechvögel! Der Amerikaner Roy C. Sullivan wurde während seines Lebens 7 Mal vom Blitz getroffen, aber überlebt hat er sie alle! 😊 Beide Kontakte, der mit einem Blitz und der mit einem 1020 V-Teilchen können sehr gesundheitsschädigend sein. Während aber ein Blitz seine Elektrizität durch den ganzen Körper schickt, absorbiert der Körper die Energie dieses Teilchens nur an einem Punkt. Auf molekularer Ebene kann eine Kettenreaktion schließlich zu verschiedenen Krankheiten wie schlimmstenfalls Krebs führen oder zu einer Veränderung eines DNA-Genoms. So können zwischen dem Einschlag des Teilchens auf dem Körper und seiner gesundheitsschädigenden Wirkung Jahre oder sogar Generationen vergehen. Aber wie gesagt, bitte keine Angst!

Der Ursprung der kosmischen Teilchen und ihr Kontakt mit der Erdoberfläche

Der Ursprung der hochenergetischen Teilchen, deren Anzahl über lange Zeiträume konstant ist, wird in Sternenexplosionen (Supernovae) in der Milchstraße und in anderen Galaxien vermutet (Abbildung 2). Niedrigenergetische Teilchen, deren Anzahl häufiger schwankt, stammen von unserer Sonne.

Abbildung 2: Eine Quelle von hochenergetischen kosmischen Teilchen sind Supernovae. Im Oktober 1604 konnte man die letzte Supernova mit bloßem Auge von der Erde aus sehen, die nach einem seiner Entdecker, Johannes Kepler, benannt wurde. Keplers Supernova war der hellste Stern am Nachthimmel und wurde auch in China gesichtet. Galileo Galilei hielt in Italien außerplanmäßige Vorlesungen über das Himmelsphänomen. Manchmal verschwand sie, um ein paar Wochen später wieder aufzutauchen. Zum letzten Mal gesehen wurde sie im Oktober 1605. Das Bild zeigt den Rest von Keplers Supernova, der heute immerhin noch im Röntgen- und Infrarotbereich zu sehen ist und noch immer Radiowellen abgibt. Ihre Entfernung zur Erde wird auf 10.000 bis 23.000 Lichtjahre geschätzt (Patnaude et al., 2012). Quelle: „Kepler Supernova Remnant (NASA, Chandra, 03/18/13)“ by NASA’s Marshall Space Flight Center is licensed under CC BY-NC 2.0

Auf die äußere Erdatmosphäre treffen zwar rund 1.000 kosmische Teilchen pro Quadratmeter und Sekunde. Aber der größte Teil von ihnen wird von der Erdatmosphäre abgeschirmt. In einer Höhe von 30 Kilometern kollidieren die kosmischen Teilchen erstmals mit Sauerstoffatomen unserer Erdatmosphäre und verlieren schon mal einen Teil ihrer Energie (Börner et al., 2013). Dabei entstehen neue Atomkerne, Protonen und Neutronen, die ebenfalls mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Erdoberfläche rasen. Je dichter die Atmosphäre mit abnehmender Höhe wird, desto mehr Kollisionen finden statt und desto geringer wird die Intensität der Teilchen. Als Flugpassagier kriegt man also deutlich mehr Partikel ab als als Taxipassagier. Ein Großteil der kosmischen Teilchen wird vom Erdmagnetfeld abgelenkt und zu den Polen geleitet, wo deutlich mehr die Erdoberfläche erreichen als am Äquator.

Nur ein Bruchteil der kosmischen Teilchen erreicht überhaupt die Erdoberfläche. Ihre Energie ist aber immer noch so hoch, dass beim Kontakt (oder Aufprall) mit einem im Oberflächengestein vorhandenen Sauerstoffatom ein neues Isotop entsteht – Beryllium-10. 10Be wird als kosmogenes Nuklid bezeichnet, weil es nur infolge der Reaktion mit einem kosmischen Teilchen gebildet wird.

Die 10Be-Methode zur Bestimmung vergangener Gletscherrückzüge

Da die kosmische Strahlung von höherenergetischen Teilchen, die auf die Erdatmosphäre treffen, konstant ist, nimmt die Anzahl von 10Be-Isotopen in einem Gestein konstant zu, je länger es an der Erdoberfläche liegt (Dielforder & Hetzel, 2014). Um zu bestimmen, wie lange ein Gestein schon kosmischer Strahlung ausgesetzt ist, braucht man nur seine 10Be-Isotopen im Labor zählen und die Geländehöhe und geographische Breite wissen. Ein überlagernder Gletscher – mit einer Eisdecke von ein paar Metern Dicke – verhindert den Einschlag der kosmischen Teilchen auf das darunterliegende Gestein und somit die Bildung von 10Be-Isotopen mit dessen Sauerstoffatomen. Zur Datierung von Gletscherrückzügen eignen sich Gesteine von Endmoränen am besten. Denn Endmoränen wurden an der Zunge eines Gletschers angehäuft, also ganz an seinem Ende. Aus der Anzahl der 10Be-Isotopen in Gesteinen von Endmoränen lässt sich der Zeitpunkt in den letzten zehntausenden Jahren bestimmen, wann der überlagernde Gletscher das Gestein wieder freigegeben – also wieder dem Kontakt mit kosmischer Strahlung ausgesetzt – und sich zurückgezogen hat (Abbildung 3).

Abbildung 3: Der Rhone-Gletscher in den Zentralalpen der Schweiz schmilzt kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert. Die Endmoräne unter der damaligen Gletscherzunge, die bis ins Tal reichte und eine große Touristenattraktion war, war nach dem ersten Gletscherrückgang der kosmischen Strahlung ausgesetzt und in ihren Gesteinen begann die Anreicherung von Beryllium-10-Isotopen. Zum Ende des 21. Jahrhundert könnte der Gletscher ganz verschwunden sein. Quelle: pixabay.com

Mit dieser Methode wurden Gletscherrückzüge nach der letzten Eiszeit weltweit und großflächig rekonstruiert, wie z. B. im polnischen Tatra-Gebirge vor etwa 21.500 Jahren (Makos et al., 2018), in Mecklenburg-Vorpommern vor etwa 15.600 Jahren (Börner et al., 2013), in den Schweizer Alpen vor etwa 14.100 Jahren (Dielforder & Hetzel, 2014) und in Neuseeland vor etwa 13.000 Jahren (Kaplan, et al., 2010).

Während der Enteisungsphase vor 19.000 bis 9.000 Jahren stieg die CO2-Konzentration in der Atmosphäre um 80 ppm (Du et al., 2018). Die Gletscherrückzüge in dieser Zeit weisen aber nicht auf eine global einheitliche Erwärmung hin, sondern auf enorme Klimaschwankungen und große Klimaunterschiede zwischen der Nord- und Südhalbkugel. Vor 14.500 Jahren kam es zum Antarktischen Kälterückfall, der auf der Südhalbkugel etwa 2.000 Jahre andauerte. Auf der Nordhalbkugel kam es gleichzeitig zu einer Erwärmung, bevor es dort plötzlich auch richtig kalt wurde, während die Südhalbkugel wieder eine Erwärmung erfuhr. Die zugrundeliegenden klimatischen Prozesse sind so komplex, dass sie immer noch nicht richtig verstanden werden. Ein besseres Verständnis ist jedoch sehr wichtig, um die zukünftigen Klimaveränderungen besser voraussagen zu können.

Eine Enteisungsphase führt langfristig auch deshalb zu einem Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre, weil die Schmelzwässer der Gletscher die Zirkulation von Tiefenwässern (thermohaline Zirkulation) im Pazifik beeinflussen, die reich an CO2 sind (Du et al., 2018). Dadurch entweichen große Mengen CO2 über Jahrhunderte in oberflächennahe Wässer nahe der Antarktis, bis sie schließlich in die Atmosphäre ausgasen. Dies führt zu einem sich selbst verstärkenden Prozess der Erwärmung und noch mehr Gletscherschmelze.

Der Blick zurück in die Vergangenheit zeigt aber auch, dass von ausgiebigen Gletscherschmelzen eine weitere Gefahr ausgeht. In den letzten 15.000 Jahren führten Gletscherschmelzen am Polarkreis schon mehrmals zu einer Störung der thermohalinen Zirkulation in den Ozeanen, einer Unterbrechung des Golfstroms und einem plötzlichen und Jahrhunderte andauernden Kälteeinbruch in Europa: zunächst in der Älteren Dryaszeit (vor 13.600 bis 13.400 Jahren), dann in der Jüngeren Dryaszeit (vor 12.700 bis 11.700 Jahren), in der es mit -5° C Jahresmitteltemperatur etwa 15° C kälter war als heute (von Grafenstein, 2000), und noch einmal in der Misox-Schwankung (vor 8.200 bis 8.100 Jahren, Rasmussen et al., 2008). Der europäische Kälteeinbruch der Misox-Schwankung traf erstmals Menschen, die Ackerbau und Viehzucht betrieben, und führte sogar in Anatolien noch zu einer Nahrungsmittelknappheit (Roffet-Salque et al., 2018). Wir verstehen also heute schon sehr gut, was uns Europäern auch bevorstehen könnte, wenn die Gletscher in der Arktis und in Grönland weiter so rasant schmelzen.

Die aktuelle Gletscherschmelze ist beispiellos!

Um ein globales Bild der heutigen Gletscherschmelze zu erhalten, misst der World Glacier Monitory Service den Gletscherrückgang von 20 Bergregionen weltweit. Das Ergebnis ist erschütternd. Die Geschwindigkeit der aktuellen Gletscherschmelze ist nicht nur um ein Vielfaches höher als in den vergangenen Jahrzehntausenden, die durchschnittliche Abnahme der Eisdicke von einem halben bis einen Meter pro Jahr ist zudem doppelt bis drei Mal so hoch wie der entsprechende Durchschnitt des 20. Jahrhunderts. Die alpinen Gletscher haben allein zwischen den Jahren 2000 und 2014 ein Sechstel ihres Eisvolumens verloren (Sommer et al., 2020). Der größte Gletscher der Alpen, der Große Aletschgletscher in der Schweiz, verliert im unteren Bereich gut 5 Meter Eisdicke pro Jahr.

Dieses Video zeigt den Rückgang des Vernagtfensters in Südtirol im Zeitraffer:

Selbst im Himalaya-Gebirge schmelzen die Gletscher bis in Höhen von 6.000 Meter (Sangari et al., 2020). Der Hauptgrund dafür sind dunkle Staub- und Rußpartikel, die sich auf dem Eis ablagern und das Sonnenlicht absorbieren, also verhindern, dass das Sonnenlicht auf dem Eisschild reflektiert wird. Im Durchschnitt verlieren die Gletscher im Himalaya mit einem halben Meter pro Jahr doppelt so viel Eisdicke wie im Jahr 2000 (Maurer et al., 2019).

Die Forscher räumen leider schon ein, dass die globale Gletscherschmelze eine solche Dynamik entwickelt hat, dass sie selbst dann weiter fortschreitet, wenn die globale Erwärmung gestoppt würde. Aber sie sind sich auch einig, dass es uns nur gelingt, ihr die Dynamik zu nehmen und die Gletscherrückgänge zu verlangsamen, wenn es zu einer schnellen und starken Reduktion der CO2-Emissionen kommt!

Quellennachweis:

Börner, A., Rinterknecht, V., Bourlés, D., Braucher, R. (2013): Erste Ergebnisse von Oberflächenexpositionsdatierungen an glazialen Grossgeschieben durch in-situ gebildetes Beryllium-10 in Mecklenburg-Vorpommern (Norddeutschland). Z. geol. Wiss. 41, 3, 123-143

Dielforder, A., Hetzel, R. (2014): The deglaciation history oft he Simplon region (southern Swiss Alps) constrained by 10Be exposure dating of ice-molded bedrock surfaces. Quarternary Science Reviews, 84, 26-38

Du, J., Haley, B., Mix, A.C., Walczak, M.H., Praetorius, S.K. (2018): Flushing of the deep Pacific Ocean and the deglacial rise of atmospheric CO2 concentrations. Nature Geoscience, 11, 749-755

Kaplan, M.R., Schaefer, J.M., Denton, G.H., Barrell, D.J.A., Chinn, T.J.H., Putnam, A.E., Anderson, B.G., Finkel, R.C., Schwartz, R., Doughty, A.M. (2010): Glacier retreat in New Zealand during the Younger  Dryas stadial. Nature, 467, 194-197

Makos, M., Rinterknecht, V., Braucher, R., Tołoczko-Pasek, A. (2018): Last Glacial Maximum and Lateglacial in the Polish High Tatra Mountains – Revised deglaciation chronology based on the 10Be exposure age dating. Quarternary Science Reviews, 187, 130-156

Maurer, J.M., Schaefer, J.M., Rupper, S., Corley, A. (2019): Acceleration of ice loss across the Himalayas over the past 40 years. Climatology, 5 (6), DOI: 10.1126/sciadv.aav7266

Petnaude, D.J., Badenes, C., Park, S., Laming, J.M. (2012): The Origin of Kelper´s Supernova Remnant. The Astrophysical Journal, 756, 6, doi:10.1088/0004-637X/756/1/6

Rasmussen, P., Hede, M.K., Noe-Nygaard, N., Clarke, A.L., Vinebrooke, R.D. (2008): Environmental response to the cold climate event 8200 years ago as recorded at Højby Sø, Denmark. Geological Survey of Denmark and Greenland Bulletin, 15, 57-60

Roffet-Salque, M., Marcaniak, A., Valdes, P.J., Pawlowska, K., Pyzel, J., Czerniak, L., Krüger, M., Roberts, C.N., Pitter, S., Evershed, P. (2018): Evidence for the impact of the 8.2-kyBP climate event on Near Eastern early farmers. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 115 (35), 8705-8709

Sarangi, C., Qian, Y., Rittger, K., Leung, L.R., Chand, D., Bormann, K.J., Painter, T.H. (2020): Dust dominates high-altitude snow darkening and melt over high-mountain Asia. Nature Climate Change, 10, 1045-1051

Sommer, C ., Malz, P., Seehaus, T.C., Lippl, S., Zemp, M., Braun, M.H. (2020): Rapid glacier retreat and downwasting throughout the European Alps in the early 21st century. Nature Communications, 11, 3209

von Grafenstein, U. (2000): Isotope signature of the Younger Dryas and two minor oscil-lations at Gerzensee (Switzerland): palaeoclimatic and palaeolimnologic interpretation based on bulk and biogenic carbonates. In: Palaeogeography, Palaeoclimatology, Palaeoecology, 159, 215–229.

Völkle, H. (2010): Die kosmische Strahlung. Bull. Soc. Frib. Sc. Nat., 34 Seiten

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